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Interview

Schulen brauchen Wlan wie Wasser und Strom

Die Digitalisierung ist aber kein Allheilmittel, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Wo andere nur Risiken sehen, sieht Jörg Dräger Chancen. Der 49-Jährige ist Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, die die Mehrheit der Anteile des Bertelsmann-Konzern besitzt. Dräger war einst Hamburger Wissenschaftssenator und ist heute einer der profiliertesten Stimmen in der Debatte um digitale Bildung. Im Interview mit Coding Kids argumentiert Dräger leidenschaftlich dafür, digitale Ansätze in die Schulen zu tragen – und erklärt, warum Programmierkenntnisse für Kinder hilfreich sein können.

Herr Dräger, wie reagiert Deutschlands Bildungspolitik auf den digitalen Wandel?

Jörg Dräger
Jörg Dräger

Abseits von wenigen Pilotschulen werden die digitalen Möglichkeiten in deutschen Klassenzimmern bisher kaum genutzt. Das Gefühl der Dringlichkeit fehlt: Die Lehrer kämpfen zwar mit mangelnder Disziplin und Konzentration der Schüler, mit großen und immer heterogeneren Klassen, mit Inklusion, Personalmangel und schlechter Betreuung; sie klagen über zeitfressende Verwaltungsaufgaben und wünschen sich mehr Raum für individuelle Förderung. Doch die Erkenntnis, dass digitales Lernen keine zusätzliche Belastung, sondern ein Teil der Lösung für all diese Herausforderungen ist, hat sich noch nicht durchgesetzt.

Einige Kritiker vermissen einen einheitlichen Ansatz bei digitaler Bildung. Und Sie?

Für die Infrastruktur brauchen wir einheitliche Standards: Die Versorgung mit Wlan sollte in deutschen Schulen so selbstverständlich sein wie Wasser und Strom. Und auch die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen einheitlich und verlässlich sein – ob beim Umgang mit Lerndaten oder bei Rechtefragen für Lehrmaterialien. Hier brauchen wir eindeutige Regelungen.

Bei den pädagogischen Konzepten kann und sollte auch Vielfalt herrschen, mit einem klaren Fokus auf die individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers. Die Situation im Klassenzimmer in Berlin-Kreuzberg ist anders als die in Starnberg oder Flensburg – darauf müssen die pädagogischen Konzepte reagieren können. Wichtig ist, dass die Technik nicht als Selbstzweck, sondern als Hilfsmittel für ein pädagogisches Konzept eingesetzt wird.

Welche Chancen sehen Sie durch digitale Ansätze gerade im Schulunterricht?

Richtig genutzt, ermöglichen digitale Werkzeuge einen Unterricht, der jedem das Richtige und nicht allen das Gleiche bietet – egal ob in Lahore, New York oder in Frankfurt, egal ob Mathe-Genie oder mit Deutsch-Förderbedarf. Eine Lehrerin, die Lernsoftware einsetzt, brachte das auf den Punkt: „Seitdem ich digitale Medien nutze, muss ich nicht mehr Standardwissen vermitteln, sondern kann Kinder unterrichten.“ Die Digitalisierung gibt allen Beteiligten mehr Zeit fürs Wesentliche – ein Allheilmittel ist sie aber nicht. Natürlich können siebenminütige Lernvideos keine Persönlichkeitsbildung ersetzen und Computertechnik nicht die Bindung zwischen Lehrer und Schüler. Was sie jedoch können, ist, Freiräume genau dafür zu schaffen.

Wir leben im Zeitalter des Codes. Sollten Kinder Programmieren lernen – und ab wann?

Über diese Frage gibt es eine lebendige pädagogische Debatte mit sehr unterschiedlichen Positionen. Für mich ist klar: Kinder und Jugendliche brauchen ein Verständnis für die Art, wie Code funktioniert. Je mehr Bereiche unseres Lebens von Algorithmen bestimmt werden, umso wichtiger ist eine gewisse Mündigkeit im Umgang mit diesen neuen Werkzeugen. Dabei können Programmierkenntnisse helfen – zudem lehren sie strukturiert denken.

Wer seine Kinder in Coding-Akademien schickt, zahlt oft viel Geld. Für viele Familien ist das unmöglich. Wie vermeidet man eine soziale Spaltung auch in der digitalen Welt?

Ein wunderbares Beispiel! In Deutschland investieren Eltern jedes Jahr rund 900 Millionen Euro in Nachhilfe. Dabei nutzen Schüler aus finanzstarken Familien Nachhilfeangebote häufiger als Schüler aus Haushalten mit geringeren Einkommen. Die soziale Spaltung ist also ein analoges Problem, kein digitales. Das können digitale Medien verringern, beispielsweise durch Online-Akademien. Aber auch Ganztagsschulen bieten die Möglichkeit, Coding und Robotik-Kurse in den Schulalltag zu integrieren und damit allen Kindern zugänglich zu machen. Diese Chancen sollten wir nutzen!

Zur Person

Jörg Dräger, geboren 1968, ehemaliger Hamburger Wissenschaftssenator und heute Vorstand der Bertelsmann Stiftung, gilt als ausgewiesener Bildungsexperte. Der Buchautor ist ein gefragter Redner und Impulsgeber zur Zukunft der Bildung. In seinem Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ (DVA) zeigt er Beispiele und Gestaltungsmöglichkeiten digitalen Lernens auf.

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