Schulbücher spielen in Jan-Martin Klinges Unterricht keine große Rolle mehr. Smartphones dagegen schon.
Redaktion 13. Juni 2017
An zahllosen Orten Deutschlands bringen Lehrerinnen und Lehrer digitale Inhalte und Ansätze in die Klassenzimmer. In der Serie „Das Vorbild“ stellt Coding Kids Pädagogen und ihre ausgewählten Projekte vor. Lehrer Jan-Martin Klinge aus Siegen (Nordrhein-Westfalen) hat sich in seinem Mathematik-Unterricht von Schulbüchern weitgehend verabschiedet. Stattdessen setzt er auf Lerntheken – Unterrichtsmaterialien, die auf Papier oder in digitaler Form vorliegen. Der Vorteil: Die Schüler können je nach Niveau eigenständig lernen, haben weniger Druck oder können sich sogar von Mitschülern (erlaubterweise) helfen lassen. Ein Interview über seine Erfahrungen.
Herr Klinge, wie nutzen Sie digitale Inhalte und Techniken im Unterricht?
Digitale Technologien sind fest in meinen Alltag als Lehrer eingewoben – statt einer vollen Lehrertasche habe ich eigentlich nur ein Tablet dabei. Handykamera und Beamer haben den Overheadprojektor abgelöst, statt des Schulbuches verwende ich digitale Lernkarten und Workbooks. Papier benutze ich so gut wie gar keines mehr. Aber: Ich versuche auch nicht krampfhaft, alles anders zu machen. Hauptsache, der PC ist dabei.
Auf welches digitale Projekt sind Sie besonders stolz?
Im Fach Mathematik arbeite ich ganz intensiv mit Lerntheken. Das bedeutet, dass die Schüler kein Schulbuch mehr nutzen, sondern eine von mir zusammengestellte Sammlung von Aufgaben und Projekten. Das Material steht den Schülern in Form von A5-Karten, aber auch in digitaler Form zur Verfügung. So sitzen viele Kinder mit Handy oder Tablet im Unterricht. Die Karten sind nach Niveau sortiert um sowohl für die leistungsschwachen wie auch die leistungsstarken Schüler passende Aufgaben zu haben. Deutlich gemacht wird dies durch unterschiedliche Farben. Als Lehrer habe ich so den Freiraum, mich nur mit den Kindern zu beschäftigen, die gerade meine Hilfe brauchen. Jeder Schüler kann selbst entscheiden, ob er noch weiter einfache Aufgaben üben möchte, oder sich schon mit schwierigeren Karten auseinandersetzen will.
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Besonders stolz bin ich darauf, dass ich es mit Kollegen und Freunden geschafft habe, das Material frei zum Download anzubieten und dazu einige Lerntheken für Flüchtlingskinder etwa ins Arabische zu übersetzen. Während also die meisten Kinder eine Stationenarbeit zum Thema „Pythagoras“ vor sich sehen, können sich Schüler, die kein Deutsch sprechen, zu jeder Aufgabe eine Übersetzung einblenden lassen. Das ist vor allem deswegen toll, weil diese Kinder oft gut in Mathematik sind, aber mit der Sprache kämpfen und etwa fragen: Was bedeutet „Wurzel ziehen“ auf arabisch?
Auf welche Hürden sind Sie dabei gestoßen?
Die größte Herausforderung ist unsere fehlende Sprachkenntnis. Wir stehen kurz davor, die gesamte Mathematik der Unter- und Mittelstufe in Form dieser freien Lerntheken für Handys und Tablets zu veröffentlichen. Schön wäre, wenn jedes Thema nicht digital nicht nur auf deutsch, sondern auch auf arabisch, englisch oder französisch zur Verfügung stünde. So könnten Kinder aus anderen Ländern problemlos am Unterricht teilnehmen und die gleichen Aufgaben bearbeiten, obwohl sie erst noch Deutsch lernen müssen. Bei diesen Übersetzungen sind wir auf Freiwillige und Eltern angewiesen – das geht nur mühsam voran.
Was haben Sie aus dem Projekt mitgenommen – und was können andere Pädagogen daraus lernen?
Kinder finden bei Spielen oft neue, ungewohnte Wege. Meine Tochter hat zum Beispiel viele Stunden mit der Suche nach einer Möglichkeit verbracht, ein Xbox-Spiel zu betrügen. Ich glaube, auch für Pädagogen ist diese Lust auf Entdecken und Ausprobieren ganz wichtig. Geht das auch anders? Schneller? Besser? Gerade digitale Werkzeuge bieten neue Ansatzpunkte und Hilfen. Aus meinem Arbeitsleben sind Computer und Handy nicht wegzudenken. Als sehr bereichernd habe ich die Kooperation mit meinen Kollegen empfunden: Wir inspirieren uns gegenseitig und – noch wichtiger – bringen uns gegenseitig neue Tricks und Kniffe bei. Wie kann ich das Handy drahtlos mit dem Beamer verbinden? Gibt es eine Möglichkeit, mit meiner Klasse ein interaktives Quiz zu gestalten? Solche Dinge lernt man am besten von und mit Kollegen.
Zur Person
Jan-Martin Klinge, 35, unterrichtet die Fächer Mathematik, Physik, Naturwissenschaft und Arbeitslehre Technik an einer Gesamtschule in der Nähe von Siegen in Nordrhein-Westfalen. Auf seinem Halbtagsblog schreibt er über das Lehrerleben, Physik in Hollywood, Religion und vieles mehr.