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Interview

„Wir müssen Jugendlichen eine Zukunftsvision geben!“

Julian Michels arbeitete zwei Jahre lang für Teach First Deutschland an einer Brennpunktschule. Im Interview mit Coding Kids blickt Julian auf seine Zeit als Digital Fellow zurück.

Julian Michels ist Berater für digitale Schulentwicklung bei Pacemaker, einer Initiative, die Impulse zur Transformation der Lernkultur setzen möchte. Vorher arbeitete der 30-Jährige Berater zwei Jahre lang für Teach First Deutschland an einer Brennpunktschule. Im Interview mit Coding Kids blickt Julian auf seine Zeit als Digital Fellow zurück. Er erzählt, was er da eigentlich gemacht hat und erklärt, warum es nichts mit dem Arbeitsleben zu tun hat, um jeden Preis Fehler zu vermeiden.

Julian, du warst zwei Jahre lang Digital Fellow an einer Hauptschule. Was können wir uns darunter vorstellen?

Julian Michels
Julian Michels

Ich war im Auftrag der Bildungsinitiative Teach First an einer sogenannten Brennpunktschule in Wattenscheid. Und unterstützte dort die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe zehn, also der Abschlussklasse. Da ging es vor allem darum, nach den Stärken des Einzelnen zu suchen und ihnen den Umgang mit dem Computer beizubringen. Mit Smartphones können sie alle hantieren, aber mit einer Tastatur und einem Schreibprogramm? Eher nicht. Da geht es um profane Dinge wie einen Lebenslauf zu erstellen.

Du warst also kein Lehrerersatz.

Ganz genau. Ich bin weder Lehrer noch Sozialarbeiter. Wenn ich mit Schülerinnen und Schülern arbeite, dann in Kleingruppen oder in Zusammenarbeit mit den Lehrern. Es geht dabei immer um die Berufsvorbereitung. Wir Fellows sind bei Fragen rund um Bewerbungen immer ansprechbar, wir bauen eine persönliche Bindung auf und hören zu. Und: Wir sind auf der Seite der Schülerinnen und Schüler. Auch, weil wir sie nicht benoten müssen.

Was macht eine Schule zu einer Brennpunktschule?

Im Falle meiner Schule kommt etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler kommt aus einem Hartz-IV-Haushalt. 80 Prozent haben Migrationshintergrund. Bei Arbeitslosigkeit ist das größte Problem, dass die Kinder nicht wissen was es bedeutet, pünktlich aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Sie bekommen es nicht vorgelebt.

„Ich bin dafür da, die jungen Menschen zu stärken und ins Berufsleben zu begleiten.“ Julian Michels

Ich arbeitete mit Schülerinnen und Schülern, die vom Intelligenzniveau die Realschule oder sogar das Abi schaffen könnten. Aber sie sprechen zu schlecht Deutsch oder müssen auf ihre Geschwister aufpassen. So haben sie eine viel größere Hürde, ihr Potential zu entwickeln – der Bildungsaufstieg ist noch schwerer als bei anderen. Ich bin dafür da, die jungen Menschen zu stärken und ins Berufsleben zu begleiten.

Klingt nach einer spannenden Aufgabe. Wie kamst du zu dem Job?

Ich habe eigentlich Lehramt studiert. Aber irgendwie war ich nicht zufrieden mit dem Schulsystem, in meinen Augen verharrt es in einer Art Stillstand. Als Fellow kann ich viel freier arbeiten und die Schülerinnen und Schüler individuell betrachten. Und ich stehe unter keinem Notendruck. Ein Dozent an der Uni brachte mich auf die Idee, Fellow zu werden. Man muss aber gar nicht Lehramt studiert haben, meine Kolleginnen und Kollegen sind Akademiker jeden Faches.

I Michels Classroom

Was stört dich am Schulsystem?

Dass die Schülerinnen und Schüler um jeden Preis Fehler vermeiden sollen. Ehrlich, das hat mit dem Arbeitsleben überhaupt nichts zu tun. Da braucht es Mut, um Dinge auszuprobieren. Die Digital Natives erreichen ihre Erfolge nicht, indem sie lange nachdenken. Sie probieren aus und lernen aus Fehlern. Für viele Lehrkräfte ist das aber kein Weg, den man gehen kann.

Welche Aufgaben hattest du noch?

Ich gab im Kollegium Fortbildungen im Bereich Digitales. Der Haken ist ja: Lehrerkräfte haben häufig nie eine gute Einweisung in digitales Lernen erhalten und trauen sich nicht dran. Also nutzen sie das Smartboard wie eine Tafel. Ich wünsche mir, dass sie aufgeschlossener sind und mehr auszuprobieren. Und ich ermutige sie, sich auch mal etwas von den Schülerinnen und Schülern zeigen zu lassen.

Meine Hauptaufgabe war hier aber, Möglichkeiten sichtbar zu machen. Keine Lehrkraft springt auf und ruft: Cool, mit digitalen Tools können wir tolle Dinge erreichen! Ich arbeitete also sehr an den Basics.

Kannst du diese Skepsis verstehen?

Ja, denn die emotionale Belastung im Kollegium ist gravierend hoch. Es wird über G8 oder G9 diskutiert, aber was an Hauptschulen passiert, steht gar nicht im Fokus. Dabei macht es einen sehr großen Unterschied, ob meine Schülerinnen und Schüler Hartz IV bekommen oder eine Ausbildung machen. Das Potential ist auf jeden Fall vorhanden. Wir müssen es nur schaffen, den Jugendlichen eine Zukunftsvision zu geben. Dafür haben Lehrkräfte aber häufig keine Kapazitäten – deshalb gibt es Leute wie mich.

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Was meinst du mit Zukunftsvision?

„Mut zusprechen und Möglichkeiten eröffnen, war Teil meiner Aufgabe.“ Julian Michels

Viele Jungs auf der Hauptschule wollen nach ihrem Abschluss KFZ-Mechaniker werden. Einfach, weil sie nicht wissen, was es sonst noch gibt. Mut zusprechen und Möglichkeiten eröffnen, war Teil meiner Aufgabe. Auch wenn es für manchen Teenager bedeutet, entgegen der Meinung seiner Eltern zu handeln. Ansonsten erkläre ich natürlich auch, was die Digitalisierung für den Arbeitsmarkt bedeutet. Dazu gehört ganz stark, dass wir empathisch, flexibel und teamfähig sind. Alles Kompetenzen, die wir zukünftig an den Tag legen müssen. Hier sollte der nächste große Fokus drauf liegen.

Die berühmten 21-Century-Skills. Welche Rolle spielt für dich Coding?

Ich hatte ein paar Schülerinnen und Schüler, die sich privat damit beschäftigen, wir haben eine Abrechnungs-App für den Schulkiosk programmiert. Das sind natürlich meine Sternstunden. Abgesehen davon muss ich sagen, dass viele zu Hause am Smartphone hängen und Spiele spielen. Das schätze ich als schwierig ein, weil sie die Technik nicht aktiv nutzen.

Sie sind so sehr ans Smartphone-Interface gewöhnt, dass sie kaum abweichen können. Sie stehen vorm Interactive-Board und wollen mit dem Finger wischen. Auch die Rechtschreibung wird durch die Autokorrektur völlig egal. Jeglicher Schreibstil geht verloren, alles ähnelt dem Chatten.

Kannst du zum Schluss von einem positiven Beispiel erzählen, das dir in Erinnerung geblieben sind?

Eine Schülerin hat durch viele Gespräche eine 180-Grad-Wendung vollzogen und direkt nach der Schule eine Ausbildung bekommen. Häufig geht es darum, Ziele zu formulieren, wie die Schülerinnen und Schüler ihre Zukunft gestalten wollen und wie sie jetzt agieren müssen, um das zu erreichen. Einen solchen Prozess zu begleiten, ist der schönste Teil an meinem Job.

Über First Teach Deutschland

Die Bildungsinitiative gibt es seit 2009. Aufgabe von Teach First ist es, junge Akademiker an Schulen in sozialen Brennpunkten zu schicken. Jeweils zwei Jahre sind die Fellows an einer Schule aktiv und bereiten die Schülerinnen und Schüler auf ihren Abschluss vor bzw. unterstützen sie dabei, eine Ausbildung zu bekommen. Hier gibt es weitere Infos: www.teachfirst.de

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