„Bei der Digitalisierung gilt: Die Dosis macht das Gift“
Kindern den Bildschirm ganz verbieten? Oder mit ihnen gemeinsam die Möglichkeiten der digitalen Welt entdecken? Die Erziehungsexpertin und Autorin Nicola Schmidt kennt die Antworten – wir haben sie interviewt.
Kira Brück 15. August 2019
Sie zählt zu den innovativsten Erziehungsexpertinnen Deutschlands: Wissenschaftsjournalistin und Autorin Nicola Schmidt. Im In- und Ausland hält sie Vorträge und gibt Fortbildungen zu Attachment Parenting (zu deutsch: Bindungsorientierte Erziehung) und naturnaher Erziehung. Jüngst erschien ihr Eltern-Ratgeber „Wild World. Wie Kinder an der Welt wachsen und Eltern entspannt bleiben“. Im Interview mit Coding Kids erklärt die Mutter von einer Tochter und einem Sohn, wie wir unsere Kinder an eine zunehmend digitale Welt heranführen, was Primärerfahrungen sind und wie man den Nachwuchs entspannt in die Selbstständigkeit entlässt.
Frau Schmidt, Sie schreiben in Ihrem Buch von „Primärerfahrungen“, die Eltern ermöglichen sollen. Was sind das für Erfahrungen?
Wasser, Feuer, Tiere... Alles, was eine echte Erfahrung ist von der Umwelt, in der ich lebe. Und eben nicht vermittelt von einem Bildschirm. Ein Beispiel: Meine achtjährige Tochter wünscht sich natürlich ein Pferd und spielt deshalb Pferdespiele auf dem Tablet. Jetzt liegt es an mir als Elternteil, das Bedürfnis zu erkennen und für die dazugehörige Primärerfahrung zu sorgen. Also ein richtiges Pferd striegeln, die echte Welt erfahren. Wir Eltern können uns immer fragen: Welches Bedürfnis steckt hinter dem Verhalten? Mein Sohn wollte schon früh Nintendo spielen. Ich fragte: Welches Bedürfnis steckt dahinter? Die Antwort: Er will etwas steuern, das hüpft und rennt. Also habe ich ihn mit in den Wald genommen und er durfte mich steuern: Hüpf, renn, spring! Es war unfassbar lustig, wir haben das wochenlang gespielt und ich war sehr fit danach! Er hat nie einen Nintendo bekommen, aber das war dann auch kein Thema mehr.
Was setzen Sie Kritikern entgegen, die behaupten, Kinder sollten gar nichts mit Smartphone und Tablets am Hut haben?
„Eltern backen nicht nur Sandkuchen – wir verändern mit unseren Kindern diese Welt.“
Nicola Schmidt
Ich habe diese Impulse auch, das gestehe ich ganz offen. In solchen Momenten denke ich immer an die Zeit der Buchdruck-Erfindung. Da hieß es, dass Lesen schädlich für die Menschen sei und in Büchern große Gefahren lauern. Es ist doch so: Kinder lernen Kulturtechniken von Erwachsenen – und sie haben auch das Recht darauf. Schließlich müssen wir sie irgendwann in diese Kultur entlassen. Aus meiner Sicht ist es viel klüger, Kinder vorzubereiten, als sie lange komplett fernzuhalten und dann einfach drauflosstolpern zu lassen. Aber – und das ist mir sehr wichtig: Mit Kulturtechnik meine ich nicht, das Tablet stundenlang als Babysitter für Kleinkinder zu nutzen. Das ist ganz klar schädlich für die Kleinen. Und da sind wir bei der Medienkompetenz der Eltern.
Wie sieht ein sinnvoller Umgang mit digitalen Tools aus?
Ich lebe zum Beispiel ganz simpel vor, dass es Orte mit Handy und ohne Handy gibt. Meine Mutter hat in den Achtzigerjahren immer gesagt: „Wenn wir essen, gehen wir nicht ans Telefon. Wenn es wichtig ist, ruft derjenige eben noch mal an.“ Bei uns im Flur gibt es eine Box, in ihr liegen alle Geräte. Denn im Kinder- oder Schlafzimmer haben sie für uns nichts verloren. Und: Wenn ich meine Kinder mit dem Smartphone fotografiere und sie mich bitten, sich das Bild sofort ansehen zu dürfen, sage ich immer: „Die schauen wir uns gemeinsam heute Abend an.“ Meistens haben sie es dann vergessen. Ich halte nichts vom Selfie-Effekt für kleine Kinder: Dieses posieren vor der Kamera, abdrücken, Bild anschauen, wieder posieren, abdrücken, Bild anschauen.
In Ihrem neuen Buch geht es darum, wie Eltern ihre Kinder gut in die Selbstständigkeit entlassen. Was raten Sie, wenn es um die Digitalisierung geht?
Selbstständigkeit bedeutet nicht: Macht es mal ohne mich. Wir müssen unsere Kinder vorher kompetent machen, sie vorbereiten und begleiten, damit sie mit der Freiheit, die sie kriegen, umgehen können. Und wichtig: Schritt für Schritt loslassen.
Das klingt in der Theorie einleuchtend. Haben Sie ein konkretes Beispiel für uns?
Mein Sohn ist elf Jahre alt, er spielt gerne ein Tablet-Spiel, in dem er ein Dorf aufbauen muss. Eines nachmittags – ich diskutierte mit meinem Mann gerade Umbaupläne fürs Wohnzimmer - sagte er: „Mama, kannst du bitte den Pin von der Kindersicherung eingeben? Ich muss mir eine Werbung angucken, damit ich an Golddublonen komme.“ Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Ich tippe entnervt die vier Ziffern ein und lasse ihn machen. Oder aber ich sage Stopp und schaue mir gemeinsam mit meinem Sohn an, welche Werbung er sich da überhaupt anschauen soll – und was das bedeutet. Wer verdient daran? Um dann als Familie gemeinsam zu einer Entscheidung zu kommen. In diesem Fall: Nein.
Hat Ihr Sohn eingelenkt?
Ja, nachdem wir darüber gesprochen haben, fand er den Deal Werbung schauen gegen Golddublonen einsacken gar nicht mehr so toll – weil er ja de facto mit seiner Lebenszeit bezahlte. Im Zweifelsfall muss man aber auch aushalten, wenn das Kind einen richtig blöd findet, weil man den Pin nicht eingibt. Ich finde es dann erst recht wichtig, mit dem Kind in den Prozess zu gehen: Was ist hier los, was brauchst du, was soll ich dir noch mal erklären?
Ihr Lieblingstipp für Eltern, die gestresst sind und das Gefühl haben, ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden?
Wir müssen nicht perfekt sein, dafür gibt es gar keine Notwendigkeit. Es reicht vollkommen, jeden Tag ein bisschen achtsamer zu sein. Und nicht an den eigenen Ansprüchen kaputt gehen: Es ist besser, die Dreijährige ausnahmsweise 20 Minuten „Mascha und der Bär“ anschauen zu lassen, weil man das zahnende Baby ins Bett bringen muss, als sich eine halbe Stunde lang anzuschreien, weil am Abend die Nerven bei allen blankliegen. Auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift.
Heute liest man oft von den 21-Century-Skills, die Kinder und Jugendliche brauchen. Welche Kompetenzen werden Ihrer Meinung nach für die Zukunft wichtig sein?
„Diese Basiskompetenzen werden sehr wichtig sein, denn die Generation unserer Kinder wird die Erde wieder aufbauen müssen, die wir gerade schrotten.“
Nicola Schmidt
Wir brauchen Kinder mit Problemlösungskompetenzen, Konfliktlösungsstrategien und Flexibilität. Dazu Empathie, Mut und Vertrauen. Der ganze andere Quatsch kommt irgendwann später. Diese Basiskompetenzen werden sehr wichtig sein, denn die Generation unserer Kinder wird die Erde wieder aufbauen müssen, die wir gerade schrotten. Dafür braucht es Ideen und die Bereitschaft, sich mit anderen an einen Tisch zu setzen und eine Lösung zu finden. Eltern backen nicht nur Sandkuchen – wir verändern mit unseren Kindern diese Welt.
Mehr zum Thema gibt es im Buch „Wild World – Wie Kinder an der Welt wachsen und Eltern entspannt bleiben“, das Nicola Schmidt und Julia Dibbern gemeinsam geschrieben haben. Nicola Schmidt hat für Coding Kids bereits ein Plädoyer für das gemeinsame Entdecken neuer Welten verfasst. Hier geht’s zum Text „Digitale Medien sind genauso wichtig wie Baumhäuser“.